Die Geschichte der Ehrengarde

Alles, was alt ist, hat in unserer Zeit wieder ganz besonderen Reiz. An solchen Dingen ist Oestrich reich. Gerade in diesem, so gut wie ausschließlich vom Weinbau geprägten rheingauer Dorf, hängen die Bewohner besonders am Bewährten. Wer in den Sommermonaten einmal durch den alten Ortsteil schlendert, spürt das schnell: die Liebe, mit der die Fachwerkhäuser straßenzügeweise gepflegt und ideenreich dekoriert werden, wie üppig Blumenschmuck an den Fassaden gedeiht, spricht für die Menschen, die in den Häusern wohnen. Dass diese Menschen natürlich auch an Traditionen hängen, ergibt sich beinahe selbstverständlich.

So hat sich in Oestrich ein Verein erhalten, zu dem es weit und breit (außer in Lorch am Rhein) keine Parallele mehr gibt: die „Ehrengarde“. Wer davon erstmals hört, reagiert überrascht. Ehrengarde? So etwas erwartet man in Bonn beim Staatsempfang. Eine Garde? Die römischen Kaiser versuchten mit Hilfe eigener Truppen ihr Leben zu schützen. Aber wie kommt Oestrich zu einer „Ehrengarde“, wenn das Bürgermeisteramt aufgrund der Verwaltungsreform schon seit 1971 nach Winkel verlegt und die neue, städtische Amtsperson einen solchen „Schutz“ aus stilistischen Gründen ablehnen muss und schon gar nicht nötig hat?

Die Ehrengarde auf der Rheingaustrasse


Dass hinter dieser „Ehrengarde“ ein Verein mit pfarrgemeindlichen Aufgaben steckt vermutet zunächst niemand. Wer sie in Aktion erlebt, merkt schnell, dass sie nicht aus „Kriegern“ besteht, auch wenn die Mitglieder Waffen tragen und auf Offiziere hören. Wie kommt Oestrich zu einer Ehrengarde, die es selbst früher in anderen Ortschaften nur höchst selten gab? Wie konnte sich eine solche lokale Tradition so lange halten und auch heute noch bemerkenswert lebendig bleiben?

Begeben wir uns noch einmal in den schon erwähnten Zeitraffer. Drehen wir die Zelt bis 1886 zurück, als der Verein gegründet wurde. 15 Jahre ist es her, dass das jahrhundertelang auf expansive Politik bedachte Frankreich erstmals in einem Krieg gegen Deutschland unterlag, jenes Deutschland, dessen Kleinstaaten sich (erstmalig seit rund 1000 Jahren) einig wurden, um geschlossen unter preußischer Führung gegen den sogenannten „Erbfeind“ zu kämpfen, Mit der Wiedererrichtung des Deutschen Reiches unter der Obhut eines kaiserlichen Regenten geht ein alter Traum in Erfüllung, dessen Auswirkungen sich bis in die Wurzeln des Volkes bemerkbar machen. Ein ungeheurer patriotischer Taumel erfasst alles von Lothringen bis Preußen: Der „Sedanstag“ und Kaisers Geburtstag werden alljährlich gefeiert. Das neue politische Selbstbewusstsein beeinflusst die Sprache, die Kunst, die Architektur, die Aufwertung von allem, was deutsch ist. Titel und militärische Ränge stehen hoch im Kurs. Wer auf „Haben Sie gedient?“ „Jawoll, Herr ...“ antworten kann und Dienstgrad, Truppe und eventuelle Kriegsauszeichnungen hinterher meldet, dem stehen alle Türen offen.

Seit 1884 arbeitet der 45-jährige Dr. Heinrich Rody seelsorgerisch in Oestrich. Er ist ein glänzender Rhetoriker, aber auch ein engagierter, trotzdem humaner Politiker (Vorstandsmitglied der Zentrumspartei Nassau). Vor allen Dingen gilt er als energischer und höchst gebildeter Theologe, der sich scharf gegen die kirchenfeindliche Kulturpolitik des preußischen Staates wendet, was ihm schon arge Unannehmlichkeiten, sogar Gefängnis eingebracht hat.

Dr. Rody ist In diesem Jahr zum Pfarrer des Dorfes ernannt worden. Er trägt sich bereits mit dem Gedanken, die seit dem Dreißigjährigen Krieg nur provisorisch in Stand gesetzte Sankt-Martins-Kirche zu restaurieren (was ihm dann in hervorragender Weise gelingen soll). Sein besonderes Engagement aber gilt den Menschen seiner Gemeinde und der katholischen Mission. Auf seine Anregung bildet sich aus der hiesigen Militärkameradschaft eine Formation, die in Zukunft „zur Hebung kirchlicher Feste und Feierlichkeiten beitragen“ will und die am 14. Juni anlässlich der Fronleichnamsprozession erstmals (noch zivil gekleidet und kunterbunt bewaffnet) auftritt. Nur katholische Gediente aus Heer und Marine sind für diese Garde zugelassen, deren Lebenswandel und Einstellung zur Sache den augenblicklichen Normen gerecht werden. Vorbild ist (vermutlich) die „Schweizergarde“, eine aus gebürtigen Schweizern gebildete Söldnertruppe, die insbesondere den französischen Königen noch bis 1830 zur Seite stand, bzw. die seit Julius II. (Anfang des 16. Jh.) bestehende Leibgarde des Papstes. Möglicherweise leitet sich die direkte Inspiration von der mittlerweile drei Jahre existierenden Lorcher Ehrengarde ab. In jedem Falle liegt dem Pfarrer aber daran, die mit ungeladenen Gewehren und Säbeln bewaffneten Oestricher als symbolischen Schutz für die katholische Sache, gleichsam dem Ritter St. Georg, dem Drachentöter, verstanden zu wissen.

Die Ehrengarde im Pfarrhof


In den folgenden Jahren gründet Dr. Rody noch weitere fünf katholische Vereine und engagiert sich überaus stark auch den anderen, weltlich orientierten Interessen seiner Mitbürger, so beispielsweise dem Gewerbe- und Handwerkerverein. Durch seine soziale Einstellung und sein organisatorisches Talent, seine Begeisterungsfähigkeit, seine weltmännische Offenheit gelangt Pfarrer Dr. Rody zu höchstmöglicher Anerkennung und Verehrung in Oestrich, die ihren Gipfel findet, als der Geistliche vom Papst mit dem Orden „pro ecclesia et ponti“ ausgezeichnet wird. Die starke Persönlichkeit Dr. Rodys schlägt alles in seinen Bann, was ihm zu einer entsprechenden Anhängerschaft auch für seine kirchliche Arbeit verhilft. Kein Wunder, dass die staatliche Kulturpolitik in Oestrich weniger Boden gewinnt als anderweitig.

Seit einigen Jahren ist die „Ehrengarde“ gut organisiert. Längst sind einheitliche Uniformen angeschafft. Ihre Aktivitäten beginnen zur Tradition zu werden. Trotzdem lebt sich die Militärkameradschaft allmählich auseinander. Die einen wenden sich stärker den Idealen der Kirche zu, verstehen ihren ehrenamtlichen Dienst im Sinne Dr. Rodys, die anderen wollen die militärische Tradition im Vordergrund wissen. Nach rund 16 Jahren (1902 und 1903) spaltet sich die „Ehrengarde“. Rund ein Drittel der Mitglieder wendet sich ab und wechselt in die Krieger- und Militärkameradschaft zurück, parallel hierzu wird den Gardisten von staatlicher Seite die „jederzeit widerrufliche Genehmigung dazu erteilt, dass bei den aus Anlass des Fronleichnamsfestes und des Ewigen Gebetes dort stattfindenden Prozessionen, solange diese in der hergebrachten Art abgehalten werden, beider Begleitung des Allerheiligsten ungeladene Gewehre bzw. Säbel als Kostümstücke getragen werden“ dürfen. „Zur Verhütung von Unglücksfällen wird sich der Vorsitzende des Kirchenvorstandes davon überzeugen müssen dass die jeweilig zu benutzenden Gewehre tatsächlich ungeladen sind.“

Zu diesem Zeitpunkt existiert offensichtlich noch kein fotographisches Dokument des Vereins, auch Dr. Rody (gestorben 1905) scheint hierzu keine Anregung gegeben zu haben. In einem Versammlungsbeschluss vom 14. Februar 1909 heißt es: „Über Punkt 1 wurde beschlossen, die photographische Aufnahme auf die in 2 Jahren stattfindende Fahnenweihe zu übertragen.“, woraus deutlich wird, wie wenig Popularität diesem Handwerk um 1900 noch beschieden ist. Die älteste erhaltene Aufnahme stammt daher aus dem Weinkometen-Jahr 1911, dem 25-jährigen Jubiläum, und zeigt die „Ehrengarde“ mit dem Präses Pfarrer Niel.

In den folgenden Jahren ist die „Ehrengarde“ immer wieder damit beschäftigt, ihr Erscheinungsbild zu organisieren. Hüte werden angeschafft, Abzeichen gestaltet, neue Biesen für die Uniformröcke aufgebracht, weiße Leinenhosen eingeführt.

Aber auch das vereinsinterne Leben organisiert sich. Die Feste werden gefeiert wie sie fallen, denn Kinder von Traurigkeit gibt es in Oestrich nicht, zu keinen Zeiten. Die Vereinsausflüge werden bevorzugt nach Kaub oder Lorch zu den gleichorientierten Vereinen unternommen, so 1914 nach Lorch, wo man das Vereinsfoto als Geschenk überreichen will. Die Reise erfolgt (vermutlich) auf einem großen, motorisierten Sandkahn.

Das schicksalhafte 1914 bringt natürlich auch den Militärverein „Ehrengarde“ durcheinander. Im patriotischen Hochflug der Emotionen, geschürt durch die massive anti-französische Propaganda, welche mit der arroganten Politik Kaiser Wilhelms II. einhergeht, kann noch niemand ermessen, welche einschneidenden Erfahrungen auf Deutschland, auch auf das kleine Oestrich zukommen werden. So verabschieden sich die Garde Mitglieder bei einem Fest mit einem Fass Bier von einander, hoffen auf ein vollzähliges Wiedersehen und schränken den Vereinsbetrieb den Umständen entsprechend ein.

Wie die erste Zusammenkunft mit den Kriegsheimkehrern ausgefallen ist, mag sich der Leser selber vorstellen. Das patriotische Selbstbewusstsein ist schon im Kriege verloren gegangen. Waffen werden zur diesjährigen Fronleichnamsprozession nicht getragen, die französische Besatzungsverwaltung gestattet es nicht, und man ist im Grunde auch froh darüber.

Doch langsam normalisiert sich das Leben auch im Verein. 1922 werden neue Uniformen angeschafft. Anstelle des von der französischen Militärverwaltung verbotenen Gewehres tritt die Lanze. „Kamerad Spitzhorn“ wird „als Fachmann die Regelung“ der „Knüppelmusik übertragen“. 1924 werden junge Leute vom Gesellen-Verein unentgeltlich in den Verein aufgenommen, um eine neue Musikkapelle ins Leben zu rufen; die Aufnahmebedingungen werden entschärft, indem es künftig auch Nichtgedienten möglich ist, in die „Ehrengarde“ einzutreten. Die „Knüppelmusiker“ (Mitglieder des Spielmannszuges) sind meist auch in der Ortsfeuerwehr und wechseln nach Bedarf lediglich die Uniformen. Deutlich hat sich die „Ehrengarde“ bereits von ihrer ursprünglich militärischen Tradition entfernt.

1931 erst dürfen wieder Militärgewehre, Modell 71, angeschafft werden. Kaufpreis: 12 Mark pro Stück, so dass das 50- jährige Jubiläum 1936 ganz im Zeichen der alten Tradition gefeiert werden kann. Jetzt beginnt sich die Vereinskameradschaft zu bewähren, denn auch der Nazipolitik ist die Kirche ein Dorn im Auge. Doch die Oestricher lassen sich nicht aus der Ruhe und schon gar nicht von ihrem Kirchendienst abbringen. Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, zeigen die Protokollbuch-Eintragungen wenig patriotische, eher pessimistische Tendenzen. Es gibt kein Abschiedsfest, kein Fass Bier auf Vereinskosten. Die Kriegszeit schränkt die Aktivitäten notgedrungen ein. Erst 1946 treffen sich die Gardefreunde wieder; 24 Mitglieder fehlen.

Wiederum muss die Zeit die Wunden heilen. Der einstmalige Militärverein ist aufgelöst — Militarismus ist im deutschen Vokabular tabuisiert. Aber den „Ehrengardisten“ geht es nach wie vor um ihren Verein und dessen satzungsgemäßen Idealen, vor allen Dingen die Wiederaufnahme ihrer kirchlichen Tradition. Neue Mitglieder müssen geworben werden. Wieder treten Lanzen an die Stelle der Gewehre. Die Ebbe in der Vereinskasse erschwert notwendige Anschaffungen für Uniformen bzw. deren Reparaturen.

Nur langsam bessert sich die Lage. 1958 dürfen die Lanzen durch hölzerne Gewehre ersetzt werden (heute sicher ein seltsames Bild, 1958 jedoch von hohem Symbolcharakter). In der Hochphase des wirtschaftlichen Aufschwunges, 16 Jahre nach Kriegsende, feiert der Verein 1961 sein 75-jähriges Bestehen.

Aber, wie sagt man: Ein Leben ohne Tief ist wie eine Suppe ohne Würze. Ein Jahr später, 1962, verlassen die „Knüppelmusiker“ Feuerwehr und Ehrengarde, um sich selbst zu formieren. Es ist eine Zeit, in der Spielmannszüge hoch beliebt sind. Im ganzen Rheingau marschieren sie zu jeder Gelegenheit durch die Straßen. Die Ehrengarde-Kompanie tritt die Flucht nach vorn an, löst sich notgedrungen aus der Zusammenarbeit mit den befreundeten Floriansjüngern und gründet einen eigenen Spielmannszug.

Heute - wir steigen wieder aus dem Zeitraffer - hat sich für den Verein längst wieder alles normalisiert. (Entschärfte) Gewehre gibt es wieder seit 1977; sie werden zu den kirchlichen Feiertagen Fronleichnam und „Ewiges Gebet“ getragen. Der Spielzug gehört zum festen Erscheinungsbild der Formation. 1 Hauptmann und 4 Offiziere „befehlen“ die Kompanie. Dezeit zählt der Verein 55 aktive und 91 passive Mitglieder.